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Der Frieden des Kapitals

Zur Logik des deutschen Moralismus

In Deutschland nichts Neues, nur die blöde Reprise des Immergleichen. Als wären sie vom Geheimdienst gehirngewaschene und programmierte „Schläfer“, die auf telefonisch übermitteltes Kommando mit einem Schlag ihr Alltagsleben aufgeben und stur ihren Auftrag ausführen, so brauchen die Deutschen und ihre linke Vorhut nur die dunkle Ahnung zu hegen, daß irgendwelchen autochthonen Völkern Unrecht getan werde, um wie auf Verabredung hin sich zur Volksfront der ewigen Opfer zusammenzurotten, die nach „Frieden“ greint und gegen die „zynische Machtpolitik“ der USA und des von ihr wie auch immer noch protegierten Israel mobilisiert. So war es 1983, so wiederholte es sich 1991 anläßlich des Golfkrieges und so trägt es sich seit dem 11.9 dieses Jahres wieder zu. So deprimierend ist dieses Déjà‑vu‑Gefühl, das einen dieser Tage beschleicht, daß man dringend Trost benötigt und die im Alltag verschwundene Vernunft zwangsläufig in älteren Büchern und Artikeln aufzustöbern gezwungen ist. Stößt man dann auf einen Text, der die herrschende Malaise schon zu einem Zeitpunkt auf den Begriff zu bringen wußte, als vielleicht noch nicht alles zu spät war, dann ist man zwar irgendwie erleichtert, wird aber seiner Entdeckung doch nicht recht froh. Einer im Jahr 1991, zu Zeiten des Golfkriegspazifismus verfaßten kritischen Intervention heute noch ungebrochene Aktualität zu bescheinigen, ehrt den damaligen Kritiker und muß den Wiederentdecker zur Verzweiflung treiben, heißt diese Aktualität doch nichts anderes, als daß der Gegenstand, den zu liquidieren der Zweck der Kritik war, ihrer unbeschadet und von ihr unangefochten fortbesteht.

Schlimmer noch: Was Manfred Dahlmann in seinem Artikel „Der Frieden des Kapitals“ spekulativ antizipierte, hat sich geradezu übererfüllt. Der deutsche Friedens‑Moralismus, damals noch von den Linken gegen eine den Nachkriegs‑Philosemitismus gerade erst abstreifende und sich noch zierende Bundesregierung ins Feld geführt, ist heute offizielle Politik geworden. Deutsche Friedensstiftung ‑ das bekommt man seit einigen Jahren drastisch vor Augen geführt ‑ ist eine Politik, die den möglichen Zusammenbruch des Weltmarktes antizipiert, indem sie von der UCK bis zu den Islamisten mit all jenen aus verkrachten Intellektuellen sich rekrutierenden völkischen Banden fraternisiert, die in ihren vom Weltmarkt längst abgeschriebenen Territorien ein Regime archaischer und deshalb hochmoderner Elendsverwaltung installieren. Das ist nicht einmal mehr klassische Hegemonialpolitik, sondern die Bluts‑ und Bodenbrüderschaft derjenigen, die es schon nach derselben Regression drängt, derer sie auf dem Balkan oder im arabischen Raum ansichtig werden.

Aus gegebenem Anlaß dokumentieren wir den 1991 in der mittlerweile vergriffenen Nr.4/5 der kritik & krise erschienenen Artikel in einer gekürzten Fassung.

Die Red.


Gegenstand der materialistischen Kritik ist die Form, innerhalb der sich Individuen zu einer kapitalistischen Gesellschaft synthetisieren. Diese Form erscheint historisch in zahlreichen Facetten: die reine Form kapitalistischer Vergesellschaftung gibt es nirgendwo und hat es nie gegeben. Insoweit die Linke den Kapitalismus aber nur wegen dieser Erscheinungsweisen kritisiert und von seiner Form noch nicht einmal einen Begriff entwickelt, bleibt sie moralisierende Kritik. Wo sie z.B. den Imperialismus zu ihrem Hauptfeind stilisiert, bleibt sie zwischen Antiimperialismus und Kapitalkritik stecken und spielt das alte Spiel der christlichen Moral: das Böse (Faschismus, Kolonialismus, Imperialismus etc.) wird zugunsten einer reinen Form bekämpft. Diese aber ist ‑ und das bleibt jedem Idealisten unbegreiflich: das Kapital.

Die Moral der Moralisten

Wer sich über das gegenseitige Abschlachten im Krieg empört und diese Empörung zum Anlaß nimmt, seinen Verstand auszuschalten, hat alle Vorteile. Individuell hat er ein gutes Gewissen, immer hat er „die Wahrheit“ auf seiner Seite und allgemeine Zustimmung ist ihm sicher. Ihm zu sagen, daß er es ist, der das Abschlachten legitimiert, muß folgenlos bleiben ‑denn ihm fehlt das Sinnesorgan, das ihm diese Wahrnehmung erlauben würde. Einem Farbenblinden kann man immerhin noch seinen Wahrnehmungsfehler erläutern. Er wird zwar nie wirklich wissen, was „rot“ ist, aber ein Bewußtsein davon entwickeln können, was ihm fehlt. Der Moralist schaltet diesen Zugang zu seinem Denken systematisch aus. Er ist immer „betroffen“ und immer im Recht. Die Reinheit der Form aber erfordert die Ausmerzung des erscheinenden Unreinen: das ist das Gesetz, das allein diejenigen konstituieren, die die Wirklichkeit im Namen von Idealen kritisieren. Für „den Krieg“ an sich ist keiner. Auch Kriegsbefürworter sind letztlich Moralisten und befürworten immer nur einen besonderen Krieg: nur den, der ihren ethischen Prämissen entspricht, also nur den, der auf Frieden zielt ‑ das aber ist in jedem Krieg der Fall. Die Prämissen der Kriegsbefürworter sind also mit denen der Kriegsgegner identisch, d.h., die Auseinandersetzungen unter ihnen bewegen sich in demselben Zweck‑Mittel‑Kontinuum. Gestritten wird lediglich um die Auswahl der geeigneten Mittel für einen allgemeinen Zweck ‑ der Zweck, der Frieden also, bleibt außen vor.

Die praktische Bedeutung einer Friedensbewegung für militärpolitische Entscheidungen ist gleich Null. Die Sehnsucht des Bürgers nach Frieden stellt lediglich ein Problem für die Erzeugung von Legitimität dar und dafür ist die Politik zuständig. Das Militär kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten. Dennoch haben die Argumente, mit denen von Deutschland aus zu einem Krieg irgendwo auf der Welt Stellung bezogen wird, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Sie präformieren das Denken und bereiten die Deutschen auf die kommenden Ereignisse vor. Wenn etwa die Forderung gestellt wird, keine deutschen Soldaten in die Türkei oder sonstwohin zu entsenden, hat das für einen Krieg dort oder anderswo keine Bedeutung. Ob diese Soldaten ihren Job hier ausüben oder anderswo, ob sie einen deutschen, amerikanischen oder türkischen Paß haben, ist dem Krieg selbst gegenüber völlig gleichgültig. Was aber im Streit um diese Frage konstituiert und reproduziert wird, ist die ideologische Verschweißung von Soldat, Bürger und Krieg unter den Begriff des „Deutsch Seins“. Die Frage, ob es irgendwo Krieg gibt, tritt hinter die Frage, ob es Deutsche gibt, die an einem Krieg beteiligt sind, zurück. Und damit werden wir ideologisch für kommende Zeiten aufgerüstet.

Genau das auch war die wesentliche Funktion der Diskussion um deutsche Rüstungsgüter für den Irak. Die allgemeine moralische Empörung darüber diente nicht der Kritik daran, daß es den Bürgern noch nicht einmal gelingt, ihre eigenen moralischen Prämissen auch nur ansatzweise in die Praxis umzusetzen ‑ und die hätten spätestens aufgrund der Erfahrungen im zweiten Weltkrieg verlangt, daß eine Reorganisation der industriellen Potenz unter deutscher Souveränität ein für allemal und mit allen Mitteln hätte verhindert werden müssen ‑, sondern nur dazu, daß sich Deutsche ihrer moralischen Verantwortung als Deutsche gegenüber der Welt bewußt werden. Etwas Schlimmeres aber kann dieser Welt schlechterdings nicht passieren.

Die Rolle Deutschlands

Historisch lassen sich die bisherigen Konfliktlinien zwischen Staaten, die aufgrund ihrer militärischen Macht souverän gegeneinander Krieg unter kapitalistischen Weltmarktbedingungen führen konnten, nachzeichnen. Dies kann ein Licht auf die künftige Entwicklung, für die der Golfkrieg lediglich Auftakt war, werfen. Ausgegangen werden soll hierzu von der These, daß der wesentliche Punkt, in dem sich Nationalstaaten voneinander unterscheiden, der historische Weg ist, auf dem sich in ihnen die „ursprüngliche Akkumulation“, das heißt die Durchsetzung der allgemeinen bürgerlichen Rechtsform in ihrer Vermittlung mit der ökonomischen und staatlichen Form, vollzogen hat. Hier gibt es Staaten, in denen diese sich „naturwüchsig“, in gegenseitiger Durchdringung, etablierte. (England, Vereinigte Staaten). Und daneben solche, die diese durch eine führende Rolle des Staates ‑ und im Sog des kapitalistischen Weltmarktes ‑ nachzuholen versuchten, Kapitalistische Verhältnisse (Lohnarbeit, Privateigentum, Freiheit und Gleichheit der Individuen auf dem Markt, wie unterschiedlich ausgeprägt auch immer) etablierten sich in diesen Gesellschaften durchaus vollständig. Es bleiben aber bedeutsame Besonderheiten im Verhältnis von Staat und Gesellschaft bestehen: z. B. was die Entstehung einer selbstbewußten, die Staatsgeschäfte (als Citoyen) selbst besorgenden Bourgeoisie betrifft oder der hohe Staatsanteil am Eigentum an Produktionsmitteln und eine Reihe weiterer kultureller und sozialstaatlicher Besonderheiten. Auf jeden Fall aber spielt der Staat dann, wenn die gesellschaftliche Reproduktion in die Krise gerät, in diesen eine sehr viel aktivere Rolle als in den anderen (im wesentlichen die USA und England) Ländern. In Krisenzeiten fällt dem Staat in solchen Nationen, die über eine, sich ihrer politischen Funktion voll bewußte Bourgeoisie nicht verfügen, die Aufgabe quasi naturwüchsig zu, diese Krise auch zu lösen und nicht nur die Bedingungen dafür zu garantieren, daß die Gesellschaft, i.e. „der Markt“, diese Lösung selbst besorgt.

Die beiden Prototypen für Staaten mit einer „nachgeholten kapitalistischen Entwicklung“ sind Deutschland einerseits und die Sowjetunion andererseits. Wobei hier die Unterscheidung darin zu treffen ist, daß, was Deutschland betrifft, der Faschismus das Resultat eines innerstaatlichen Konflikts zwischen entwickelter liberalistischer und staatskapitalistisch nachholender Entwicklung darstellt. Der Nationalsozialismus, oder sagen wir allgemeiner: das militaristische Zerstörungspotential Deutschlands bis zum zweiten Weltkrieg stellte die Aufhebung des Kapitals auf dem Boden des Kapitalismus dar. Im Unterschied zur Sowjetunion (oder China), die bis heute allein mit der staatlichen Organisation der Akkumulation beschäftigt ist und über eine gesellschaftlich relevante kapitalistische Produktionsstruktur nie verfügte. (1)

Konfliktlinien

Geopolitisch versucht jeder Staat die spezifischen Elemente seiner gesellschaftlichen Struktur auf andere Staaten zu übertragen. Dies ist ein Gesetz, das die außenpolitischen Akteure befolgen ‑ ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht, ist der Sache herzlich egal. Um die jeweilige Form der ‑ auf allgemein kapitalistischer Basis ‑ organisierten Zusammenfassung der Bürger zum Staatswesen oder, was nur ein anderer Ausdruck dafür ist: um die jeweilige Form der Friedenssicherung wird Krieg geführt oder, was ebenfalls nur die andere Erscheinungsweise ein und derselben Sache ist, Diplomatie betrieben. Die Hegemonie eines Staates über einen anderen kann sich unter den gegebenen, durchgehend kapitalisierten Weltmarktbedingungen nur dauerhaft reproduzieren, wenn die Besonderheiten der inneren Form der Vergesellschaftung des hegemonisierenden Staates auf den hegemonisierten übertragen werden ‑ dies ist nur dann nicht nötig, wenn von vornherein eine Homogenität besteht. Denn unter kapitalistischen Weltmarktbedingungen können weder im Innenverhältnis noch im Außenverhältnis die (Rechts‑)Beziehungen allein auf unmittelbarer Ausbeutung beruhen, sondern reproduzieren sich in der Universalisierung als Warenbeziehungen. (2)

Den Imperialismus Amerikas etwa störte zu Zeiten des kalten Krieges all das an der Sowjetunion, was nicht seiner Form kapitalistischer Vergesellschaftung entsprach: das Staatseigentum an den Produktionsmitteln und die Verstaatlichung der Kommunikationsmedien, das Außenhandelsmonopol etc. Dies wurde als sozialistisch denunziert und der Konflikt zweier Erscheinungsformen kapitalistischer Vergesellschaftung zum Kampf zwischen der freien und der kommunistischen Welt hochstilisiert ‑ mit durchschlagendem Erfolg vor allem bei jenen, die ansonsten in allem, was aus den Vereinigten Staaten kommt, die imperialistische Propagandastrategie am Werke sahen, aber durchaus überzeugt waren, daß es sich bei der Form der Vergesellschaftung in der Sowjetunion um eine nicht‑kapitalistische gehandelt hat.

Es gibt aber noch eine andere geopolitische Konfliktlinie als die, die sich im kalten Krieg Ausdruck verschaffte: Die zwischen Staaten mit erfolgreich nachgeholter zu denjenigen mit einer „naturwüchsigen“ Akkumulation. Diese ist zwar nicht so offensichtlich ‑ aber umso bedeutsamer. Daß es zwischen diesen Staaten einen tiefen Graben gibt, der wohl noch tiefer geht als der der „westlichen Welt“ zu den sich bis vor kurzem noch sozialistisch nennenden, staatskapitalistischen (diese Akkumulation relativ erfolglos nachholenden), ist Franzosen, Briten und Amerikanern schon im zweiten Weltkrieg erst aufgefallen, als es fast schon zu spät war. Der Bürger Amerikas hat von seiner Form der Vergesellschaftung genauso wenig einen Begriff wie der deutsche (oder sonst ein nationalbewußter Mensch) ‑ und daher bleibt beiden verborgen, daß es zwischen ihnen strukturell bedingte Unterschiede gibt, über die sich die abstrakte Notwendigkeit der kapitalistischen Staaten, gegeneinander in Konkurrenz treten zu müssen, seinen konkreten Ausdruck verschaffen kann. Und die sich hervorragend eignen ‑ für den Fall, daß der Krieg die Lösung kapitalistischer Akkumulationsprobleme besorgen muß ‑ als Konfliktlinie herzuhalten, entlang der solch ein Krieg (selbst wenn es sich nur um einen Wirtschaftskrieg handeln sollte) legitimiert werden kann. (3)

Deutschland nun spielte im Golfkrieg die Rolle, die es historisch immer gespielt hat und die sich aus der Besonderheit seines historischen Weges zu einem staatlich gelenkten und das produktionstechnische Niveau der USA und Englands ein‑ oder gar überholt habenden Kapitalismus bestimmt. Die deutschen Politiker werden auch künftig gar nicht anders können. Was sie auch tun, sie tun, was dieser Rolle entspricht.

Die einen, und zwar die, die sich wenigstens noch ein historisches Bewußtsein von der strukturellen Gefahr dieses „deutschen Sonderwegs“ bewahrt haben, fordern eine unbedingte Einbindung der deutschen Politik in den Imperialismus Amerikas. Und das war bisher auch das erklärte strategische Ziel der Vereinigten Staaten seit dem zweiten Weltkrieg. Das Kalkül dieser Politik wäre durchaus ehrenwert ‑ wenn erstens der Kapitalismus und Imperialismus Amerikas nicht wäre, wenn zweitens nicht jederzeit die Gefahr bestünde, daß die Vereinigten Staaten im Inneren ihre liberalkapitalistische Form auch aufheben und in eine bonapartistische (oder gar faschistoide) transformieren, und wenn, drittens, dieses Kalkül überhaupt aufgehen könnte. Denn Deutschland ist aufgrund seiner ökonomischen Potenz und nicht zuletzt seiner korporativistischen Erfahrungen bei der sozialstaatlichen Sicherung von Massenloyalität nicht aus seiner Sonderrolle zu verdrängen, solange es existiert. Über diese historischen Bedingungen hinaus ist diese Rolle außerdem ein notwendiges Resultat wechselseitiger Zuschreibung: Wenn die einen diese Sonderrolle zurückweisen, die anderen sie betonen, setzt sich, wie in jeder Spiegelfechterei, nicht die eine gegen die andere Seite durch, sondern allein das, worum gestritten wird: die Sonderrolle halt. Und diese Zuschreibung verstärkt sich nur noch dadurch, daß von einflußreichen Gruppen alter Staaten an Deutschland auch von außen eine seiner ökonomischen Potenz adäquate Übernahme friedenssichernder Aktivitäten herangetragen wird. Auf jeden Fall: Die militärische Beteiligung Deutschlands am Golfkrieg hätte dem entscheidenden Konkurrenten der USA um die Führungsrolle in einer neuen, weltweiten Form der Friedenssicherung (auch neue Weltwirtschaftsordnung genannt) nicht nur die ökonomischen, sondern gar die militärischen Einfallstore erschlossen.

Freundlicher Schutzmann vs. Weltpolizist

Die anderen, und das ist die überwiegende Mehrzahl, bildeten während des Golfkrieges eine Koalition, die von den Nationalisten á la Schönhuber über die Bundeswehr, die Bundesregierung und, diese radikalisierend, die SPD bis zur Friedensbewegung reichte ‑ und die in den meisten europäischen Ländern mit Ausnahme Englands und der Mehrheit in Frankreich ihre Entsprechungen hatte. Diese Koalition verlangte von „ihrer“ Regierung einerseits ein Raushalten aus dem Konflikt und, als ob dies gar kein Widerspruch wäre, gleichzeitig eine aktive Rolle in der Übernahme friedenspolitischer Aktivitäten (meist unter dem Deckmantel der Europäischen Gemeinschaft). Und das wäre in der Tat der kostengünstigste Weg, die spezifische Form der deutschen Friedenssicherung geopolitisch voll zu entfalten. Im gleichen Maße wie das sowjetische Modell seine Attraktivität verliert, gewinnt daran das deutsche. Je weniger Schüsse Deutsche im Bündnis mit den USA abgeben, um so leichter wird es den am deutschen Modell einer nachholenden kapitalistischen Entwicklung orientierten staatskapitalistischen Staaten der Dritten Welt fallen, sich mit Deutschland gegen den Imperialismus Amerikas zu verbünden. Zumal, und das zeigt nur besonders frappant das Beispiel Frankreichs im zweiten Weltkrieg, es in allen Staaten unter der Bevölkerung einen erheblichen Anteil gibt, bei dem es sich, ungeachtet ihrer Nationalität oder sonst einer Zuschreibung, vom Charakter her um solche handelt, denen ‑ wie den Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrzahl ‑ jede konsequent liberalistische Ökonomie unerträglich ist. Das Selbst dieser Charaktere benötigt eine ihm körperlich‑anschaulich gegenüberstehende ldentifikationsfigur als Projektionsfläche seiner Identität und kann sich die Charaktermaske des selbstbewußten Bourgeois nicht aufsetzen (und noch weniger die des Citoyen). Deutschland in der Rolle des Friedenstifters, der Weltpolizist Amerika vom freundlichen Schutzmann um die Ecke verdrängt: Wenn diese Bundesregierung weiterhin sich zieren sollte, ihre Chance zu ergreifen, die nächste (oder übernächste) wird es tun.

Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob die sich entlang dieser Linie zwischen ursprünglicher und nachholender Entwicklung agierenden Konfliktparteien auch unter einem gemeinsamen Dach oder Namen auftreten. Zu zeigen ist nur, daß es aufgrund der inneren Struktur vor allem im Verhältnis von Staat und Gesellschaft besonders in den arabischen Staaten, den meisten europäischen (v.a. im Osten), und vielen anderen Homologien gibt, die aus sich selbst heraus zu einer Vereinheitlichung, unter welchen Vorzeichen auch immer, drängen. So viel kann zur Erscheinungsform dieser Vereinheitlichung aber schon jetzt gesagt werden: sie wird eine eindeutige Abgrenzung vom liberalkapitalistischen Modell vor allem der USA beinhalten. Und daß Deutschland unter diesen Staaten eine hervorragende Rolle spielen wird, dürfte sich von selbst verstehen. Ob diese Hegemonialrolle dieselbe faschistische oder gar nationalsozialistische Form annimmt wie im Dritten Reich oder aber liberalkapitalistisch geläutert daherkommt, ist dabei gleichgültig. Mit dem Nationalsozialismus hat Deutschland das Maß gesetzt, an dem seine besondere Form gesellschaftlicher Reproduktion zu messen ist. Die Westeinbindung jedenfalls, auch wenn sie noch eine Zeitlang weitergehen wird, verliert ihre Basis, sobald die Vereinigten Staaten zum unmittelbaren Konkurrenten um hegemoniale Macht werden. Und wenn es zum vorausgesagten Zusammenbruch des Weltwährungssystems kommen sollte ist auch das andere Bein dieser Westintegration: die Exportorientierung der deutschen Industrie, mit einem Schlag verloren. Dann geht es nur noch um Aufteilung an sich, um Ausschaltung von Konkurrenz um militärisch und politisch zu sichernde Einflußsphären. Ein Geschäft, von den anzunehmen, daß Deutsche es verlernt hätten, bestenfalls blauäugig ist. (4)

Es droht eine Situation, in der der Staat eine weltpolitisch führende, wie auch immer sich im Hintergrund bedeckt haltende Ordnungsmacht wird, der aufgrund seine Vergangenheit am wenigsten dazu legitimiert ist. Und der bewiesen hat, wie seine Lösungen aus existenziellen kapitalistischen Krisen aussehen. Und solche Krisen stehen, das pfeifen die Spatzen von den Dächern, auf der Tagesordnung. Daß dies, wie schon jetzt, auf Kosten des einzigen Staates dieser Welt gehen wird, der (solange die Zugehörigkeit zu irgendeiner Nationalität die gesellschaftliche Grundbedingung menschlicher Existenz ist) eine nicht nur subjektiv begründete moralische und historische Existenzberechtigung hat, also Israel (5), ist die eine Folge dieser Entwicklung. Die andere ist die, daß das Schicksal einer Opposition gegen den Kapitalismus, die in solcherart staatskapitalistischen Ländern agiert, damit besiegelt sein wird. Denn diese Opposition ist ohne die Nischen, die der Liberalismus seinen Bürgern läßt ‑ und das beweisen sogar die von den USA abhängigen Staaten in Lateinamerika, wenn man diese mit solchen wie dem Irak, Iran, Syrien, Libyen u.a. vergleicht ‑ unmöglich. Für die Opposition stellt sich dann, zu schlechterletzt, selbst eine existenzielle Situation und diese würde alle Versuche, die Form Kapital zu kritisieren, zur Makulatur machen.


Manfred Dahlmann

BAHAMAS 36  Herbst 2001

Anmerkungen:

1.Dieser Unterschied zeigt sich u.a. in de andersartigen Stellung des Militärs für die gesellschaftliche Reproduktion: In der Sowjetunion ist das Militär (bei aller strukturellen Eigendynamik, die solch eine Organisation zwangsläufig herausbildet) ökonomisch ein notwendiges Übel, ein Übel das nur verbraucht und nichts Dingliches produziert. Im deutschen Faschismus (wie in jedem kapitalistischen Staat der mit seiner inneren ökonomischen Reproduktion nicht fertig wird) avancierte das Militär dagegen selbst zum Motor der Akkumulation.

2. In diesem Sinne nahmen auch Kriegsschulden, Reparationsleistungen oder sonstige kriegsbedingte Abgaben Warencharakter an. Schließlich sind Steuern, wie Dienstleistungen oder andere nichtgegenständliche Leistungen auch, schon längst der Preis für eine Ware ‑Steuern sind dem Grunde nach also ein ,Schutzgeld’, wie es der Mafioso von einem Kneipenwirt fordert.
Die Hegemonialmacht hat im übrigen natürlich kein Interesse daran, die Produktionsgrundlagen des hegemonisierten Staates der ihrigen anzupassen (es ist ihr allerdings auch ziemlich egal, wann dies einem solchen, von ihr hegemonisierten Staat, aufgrund welcher Bedingungen auch immer, in Ausnahmefällen dennoch gelingen sollte) ‑ sie hat allein ein Interesse an der Übertragung der Form ihrer Verhältnisse. Dies erklärt, warum es diesen hegemonisierten Staaten so gut wie nie gelingt, den ökonomischen Standard der Hegemonialmacht, wenn er nicht vor der Hegemonialisierung schon höher war ‑ s. das Verhältnis CSSR/DDR zur UdSSR nach 45 ‑, zu erreichen.

3) Dabei sollte es sich von selbst verstehen, daß die konkrete ideologische Ausformulierung dieser Konfliktlinie nicht die wirklichen strukturellen Ursachen benennen wird, sondern auf die üblichen moralisierenden Verkehrungen (Wahrung der Menschenrechte hier, Kampf dem Totalitarismus dort etc.) zurückgreift. (s. auch Anmerkung 4).

4) Sollte es zu diesen übernationalen Integrationen aufgrund ihrer strukturellen Homologien kommen, benötigten diese, wie die Nationalstaaten für sich selbst, eine übergreifende, allgemein konsensfähige Ideologie. Es ist wenig wahrscheinlich, daß hier die faschistische Rassenideologie wieder neu aufgelegt werden würde. Viel naheliegender ist, daß die Funktion, die der Rassebegriff für die Nationalsozialisten hatte, dann durch ein ökologisches Bewußtsein' ersetzt wird. Dieses bildet eine allemal konsensfähigere Legitimationsbasis für entschlossenes, antiliberales Handeln und hat dennoch all die Momente in sich, die von einer solchen Ideologie verlangt werden: klare, Eindeutigkeit und Konkretheit versprechende Abstraktionen (Lebens‑, Natur‑, Überlebensschutz); auf den ersten Blick leicht abzugrenzende Feindbilder (die „Umweltverschmutzer“ ‑ und, wenn zur Zeit auch erst noch bei gewissen Sekten: US‑Imperialismus und Zionismus) sowie, wie der Rassismus, einfache, allgemeinverständliche wissenschaftlich‑rationale Modelle, über die alles politisch Gewünschte als entpolitisierte, zur Naturhaftigkeit fetischisierte Ordnung legitimiert werden kann.

5) Denn die Staatsgründung Israels hat allen anderen das eine voraus (und dies begründet zum Teil den Haß, den gerade dieser Staat auf sich zieht): sie kann sich nicht allein auf subjektive Zuschreibungen (der Art: ich bin halt Deutscher/Franzose/Ire/Baske oder sonstwas und will es auch bleiben) berufen, sondern auf einen unbestreitbar objektiven Grund: Die NS‑Ideologie, wie der Antisemitismus generell, schreibt das „Jude Sein“ einem Menschen objektiv, vollständig losgelöst von subjektiven Intentionen zu.